Der schützende Rahmen für Einzelbewegungen
und deren Profile
Wir haben es heute offensichtlich mit einer umfassenderen Tierbewegung zu tun, die auf der einen Seite eine Dachbewegung für mehrere Einzelbewegungen
darstellt, auf der anderen ein eigenes Profil aufweist. Diese Arbeit versucht zu erläutern, was als „Tierschutz“, „Tierrechte“, „Tierbefreiung“ etc., aber auch unter der „modernen Tierbewegung“
zu verstehen ist. Ihr steht die Annahme zugrunde, dass klare, sich voneinander auch abgrenzende Profile ausmachbar und für alle Seiten nützlich sind. Klare, sich voneinander abgrenzende Profile
sollten die Identifikation der Akteure mit den jeweiligen Bewegungszielen und zugleich die Toleranz gegenüber den anderen Bewegungen fördern. Eine gemeinsame (Tier-)Bewegung bliebe bestehen, die
Zusammenarbeit würde gestärkt, bewegungsinterne Streitereien würden seltener. Die Einzelbewegungen würden von der Öffentlichkeit mit ihren jeweiligen Profilen und Zielen klarer wahrgenommen und
besser erfasst.
Seit einigen Jahren häufen sich die Streitigkeiten darüber, was „die Bewegung“ ausmache, welche Ziele sie verfolge, was in ihrem Rahmen tolerierbar wäre und was nicht mehr. Unzufriedenheit bis hin zur Störung von Veranstaltungen der eigenen Bewegung stellen sich ein. Durch das Erstarken des modernen Tierschutzes als „Brückenbewegung“ schmelzen mehrere Einzelbewegungen1 zu einer einzigen großen Tierbewegung zusammen. „Die Bewegung“ ist dadurch vielfältiger und größer geworden. Der Preis dafür ist jedoch, dass mit den Grenzen auch die Profile zerfließen. Sich eigentlich ausschließende, teils auch entgegengesetzte Ansichten, Ziele und Strategien finden sich nun in einem gemeinsamen Bewegungsprofil „für die Tiere“ vereint.
Verschwommene Bewegung
Innerhalb der gemeinsamen Bewegung verschwimmen die Unterschiede zwischen den einzelnen Bewegungen. Wir haben es heute mit einer „verschwommenen Bewegung“ zu tun.2 Die Einzelbewegungen haben es bislang versäumt, ihre sich voneinander unterscheidenden Profile zu stärken und voneinander abzugrenzen. Sie werden mit ihren jeweiligen Profilen nicht oder kaum wahrgenommen, sondern verschmelzen zu einer gemeinsamen Bewegung, eben der Tierbewegung. Die Begriffe werden längst inflationär und synonym verwendet. Jede Tierschutzaktion kann unter „Tierrechte“ laufen. Die Inkonsistenz, der innere Widerspruch, fällt vielen in der Tierbewegung heute nicht oder kaum noch auf. Vielen sind die Begriffe und deren Unterschiede auch nicht klar. Wer „für die Tiere“ ist, ist „Tierrechtler“ – und „Tierschützer“ und „Tierbefreier“. Und da alle Ansätze angeblich relativ gleich sind oder zumindest ähnliche Ziele verfolgen, sollte man entsprechend tolerant sein gegen jene, die von den eigenen Ansichten „etwas“ abweichen. Die Gemeinsamkeit, für die Tiere ethisch motiviert und aktiv zu sein, überdeckt alle Unterschiede und fordert Toleranz ein innerhalb der gemeinsamen Tierbewegung. Dies führt jedoch zu Streit darüber, welches Profil die eine gemeinsame Bewegung – namentlich die vermeintliche „Tierrechtsbewegung“ – habe oder haben sollte. Streitigkeiten innerhalb der gemeinsamen Bewegung entstehen deshalb, weil manche der Meinung sind, dass die eine oder andere Einstellung oder Handlungsstrategie nicht zu ihrer Bewegung dazugehöre. Sie versuchen, das spezifische Profil ihrer Bewegung zu behaupten.
Verschwimmende Tierrechtsbewegung
Bewegungen und ihren Profilen wird geschadet, wenn in ihrem Namen beliebig agiert werden kann. Sie werden verwässert und überflutet und damit respektlos behandelt. So wird die prestigereiche, radikal erscheinende, sehr aktive sowie kreative Tierrechtsbewegung als Vorhängeschild für Tierschutzbestrebungen genutzt und damit die eigentlichen Tierrechtsforderungen relativiert. Mit nicht-radikalen Zielen, von der anderen Seite betrachtet vergleichsweise schnell zu erlangenden Zielen, sind die reformistischen Tierschutzbestrebungen attraktiv für die breite, tierfreundlich eingestellte Gesellschaft, aber auch für viele Akteure der Tierbewegung, die „auch“ im Hier und Jetzt schon Erfolge erzielen und etwas Konkretes für die Tiere erreichen wollen. Diese Bestrebungen ziehen sowohl Akteure aus der Tierrechtsbewegung an (greifbare Erfolge), als auch tierliebe Menschen aus der breiten Bevölkerung. Die Basis „der Bewegung“ wird dadurch größer. Solange die Tierschutzbemühungen der (eigentlichen) Tierrechtsbewegung nicht direkt in die Quere kommen sowie innerhalb der Tierrechtsbewegung Streitigkeiten dazu entfachen, was denn nun unter „Tierrechten“ zu verstehen sei, sollten sie – außerhalb der Tierrechtsbewegung – toleriert werden.3
Manche reden von der „Tierschutz-/Tierrechtsbewegung“, andere von der „Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung“. Tatsächlich haben wir es aber mit unterschiedlichen und voneinander unterscheidbaren Bewegungen und Bewegungsprofilen zu tun, die sich teilweise sogar entgegenstehen.4 Die eigentliche Tierrechtsbewegung kommt unter die Räder zweier anderer Bewegungen. Die Verwendung von Begriffen wird beliebig, damit aber gleichermaßen auch „die“ Bewegung. Wer seine Bewegung (mit deren Profil) bewahren möchte, muss einschreiten.5
Zur Kritik an Abgrenzungen
Die Kritik an gewissen Menschen und Gruppen, die für die Tiere aktiv sind, deren Ausgrenzung, bis hin zur Störung von Veranstaltungen, ärgert jene, die sich eine „starke“ und vereinte Bewegung für die Tiere wünschen. Kritik und Streitereien innerhalb der Bewegung führten doch dazu, dass die Bewegung geschwächt und der eigentliche Gegner, die tierausbeutende Industrie, dadurch gestärkt werde. Dabei wird die Bewegung als klein und ohnmächtig wahrgenommen und bezeichnet, die in der Anzahl der Mitstreiter größer werden sollte. Häufig heißt es, wir sollten unsere Kapazitäten für unsere Ziele einsetzen und uns nicht an internen Meinungsverschiedenheiten aufreiben. Erst recht sollten wir uns nicht gegenseitig sabotieren. Wir hätten ja eigentlich die gleichen oder zumindest ähnliche Ziele. Immer mehr Leute aus der Tierbewegung wehren sich dagegen, wenn nach innen Kritik geübt und dies auch nach außen getragen wird. Sie verstehen es nicht, wenn innerhalb der eigenen Bewegung scharf kritisiert wird, weil wir doch alle – wenn auch unterschiedlich – für die Tiere aktiv seien. Übersehen wird dabei jedoch, dass es sich nicht immer um hinreichend übereinstimmende, gemeinsame Ziele handelt.
Marsili Cronberg meint: „Meinungsverschiedenheiten, die sich nicht auflösen lassen, dürfen nicht länger dazu führen, dass man sich gegenseitig verletzt und Sand ins
Getriebe wirft.“ Dem kann man sich anschließen. Dies muss aber für alle Seiten gelten. Ein Konflikt kann nicht dadurch beigelegt werden, dass die eine Seite ihre (berechtigten) Ansprüche – ihre
Bewegungsprofile zu wahren – aufgibt. Auch von der anderen Seite muss eingelenkt werden. Verwässertes Schmiermittel gefährdet ebenfalls das Getriebe. Wenn die richtigen Mittel verwendet werden
und das Getriebe nicht in die falsche Richtung läuft, beschwert sich auch niemand mehr. Für andere Zwecke eignen sich andere Getriebe, die jeweils andere Schmiermittel erfordern.
Eine Abgrenzung muss nicht immer gleich trotzig-willkürlich, sondern kann auch wohlbegründet und konsequent sein. Eine Begriffsklarheit einzuführen wäre allein schon
aus dem Grunde wichtig, um Missverständnisse und Streitigkeiten innerhalb der Tierbewegung einzudämmen. Vorfälle wie in Köln 2011 (bei einer Veranstaltung, die fälschlich als „Event für
Tierrechte“ bezeichnet wurde) und Bremen 2012 (bei einer Veranstaltung, die legitimer Weise eine Anti-Tierversuchsveranstaltung war und nicht gebunden an das Profil der Tierrechts- oder der
Tierbefreiungsbewegung) sollten dann nicht mehr passieren – außer bei erneutem Etikettenschwindel (den es in Bremen aber nicht gab). Die Proteste, die in die Störung der beiden Veranstaltungen
mündeten, verliefen unglücklich und destruktiv. Sie haben allen Seiten mehr geschadet als genutzt. Die Wahl der Mittel zeugt aber auch von einer stärker werdenden Unzufriedenheit und verspürten
Machtlosigkeit. Aus einer gewissen Perspektive wird die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung durch das verstärkte öffentliche Auftreten des Tierschutzes empfindlich verwässert und unterwandert.
Das bisherige Ziel, das die Abschaffung der Tierausbeutung fordert, wird ersetzt durch das Ziel der „Verbesserung der Situation von Tieren“. Die abolitionistische Bewegung weiß sich in der
Bewahrung ihres Profils offensichtlich nicht anders zu helfen. Doch zu behaupten, jene Störer und gegen etwas Eingestellte seien einfach nur engstirnig und intolerant, weswegen sie als „Hetzer“
und „Spalter“ zu bezeichnen seien, greift zu kurz.6
Abgrenzungsbereiche und Diskurse
Kritisiert und abgegrenzt wird in der Bewegung vor allem bezüglich folgender vier Themen:
Reformismus / moderner Tierschutz (sein Stellenwert in der Tierrechtsbewegung)
Vegetarismus (sein Stellenwert in der Tierrechtsbewegung)
Nazis und Universelles Leben (ihr Engagement für die Tiere und die Zusammenarbeit mit ihnen)
Versuche der Instrumentalisierung oder Unterwanderung der Tierrechtsbewegung.
Die Spannungen bezüglich dieser Themen sind derart stark, dass sie als bewegungsrelevante Themen nicht mehr übergangen werden können. Die Frage ist lediglich, ob man sich (weiterhin) streiten oder per Diskurs einen Streit beilegen möchte. Wir kommen als Bewegung nicht um Diskurse herum. Wenn es Elemente gibt, die eine Bewegung empfindlich stören, dann sind sie Thema. Und zwar nicht nur ein Randthema. Wenn man die Leute zusammen bringen und vor allem halten will, dann muss man sich auch mit „Randthemen“, also internen Konflikten, auseinandersetzen.
»Die Benennung unterschiedlicher
Bewegungen und die Anerkennung
voneinander abgrenzender Profile hat
überraschend viele und überzeugende
Vorteile.
Aufsplitterung der Bewegung?
Manche sind der Meinung, das Tierrechts- oder das Tierbefreiungskonzept stehe in der Tradition der Bewegung und stelle eine „fortschrittliche Weiterentwicklung“ im Rahmen dieser gemeinsamen Bewegung dar. Von diesem Aspekt her lehnen manche Aktivisten die Aufsplitterung der Bewegung in Einzelbewegungen ab.7 Dann wird man aber wie bisher weiterhin den Preis dafür zahlen müssen, eine einzige gemeinsame Bewegung haben zu wollen: Da die voneinander verschiedenen Einzelbewegungen nicht zulassen können, dass ihre Bewegungen mit ihren Profilen untergehen, und sich niemals zugunsten eines gemeinsamen Bewegungsprofils einigen werden, sondern vielmehr darum kämpfen müssten, dass ihre jeweilige Ansicht zur bewegungsbestimmenden wird, wird dieser Zustand des Streitens um die Strategien und des Kampfes um die Deutungshoheit innerhalb der einen gemeinsamen Bewegung nicht eingestellt werden können und ewig Ressourcen binden. Vielen geht es um Substantielles: den Schutz und Erhalt des eigenen Bewegungsprofils, das durch die Dominanz populärer, nicht-radikaler Ansätze unterzugehen droht. Begriffsklarheit und die Etablierung von Bewegungsprofilen sichern den Minderheitenschutz. Die abolitionistische Bewegung wird aktuell durch Begriffsmissbrauch, das willentliche Leugnen der Unterschiede, aber auch durch die dominante Präsenz des modernen Tierschutzes in einer gemeinsamen Bewegung ausgehebelt und damit unterdrückt. Dieser Konflikt bedarf offensichtlich des Diskurses, der mit der einseitigen Forderung nach Toleranz nicht mehr stillschweigend umgangen werden darf.
Die Ansicht der „fortschrittlichen Weiterentwicklung der gemeinsamen Bewegung“ teilen von der anderen Seite auch manche Aktivisten der herrschaftskritischen Bewegung. Auch sie sollten sich davon verabschieden, ihr Bewegungsprofil auf die Gesamtbewegung übertragen zu wollen (aus denselben Gründen: ewige Streitigkeiten und Machtkämpfe). Die konkurrierende Auseinandersetzung der Bewegungen miteinander sollte vielmehr zwischen den Bewegungen stattfinden.
Aber führt die Aufsplitterung der gemeinsamen Bewegung in mehrere Einzelbewegungen nicht zur Schwächung ihrer politischen Schlagkraft? Und sollten nicht wenigstens die Tierrechts- und die Tierbefreiungsbewegung zusammengeschlossen werden, um mit dem zentralen gemeinsamen Ziel der Abschaffung der Tierausbeutung der erfolgreicheren Bewegung des modernen Tierschutzes etwas mehr entgegenhalten zu können? Nein. Die Bewegungen würden ja nicht voneinander getrennt, sondern innerhalb einer umfassenden Dachbewegung lediglich voneinander unterschieden.8
Vorteile der Aufsplitterung
Die Benennung unterschiedlicher Bewegungen und die Anerkennung voneinander abgrenzender Profile hat – wie ich denke – überraschend viele und überzeugende Vorteile. Wenn es transparente Definitionen dafür gäbe, was die jeweiligen Bewegungen ausmacht und was nicht mehr, wenn also geklärt wäre, was notwendig zu einer Bewegung gehört, was noch tolerabel ist und was definitiv nicht dazugehört, dann bräuchte man
viel weniger intern streiten, Deutungskämpfe ausfechten und kritisieren. Die Begriffsklarheit würde den Streitereien den Nährboden nehmen.
Die inflationäre (Fehl-)Verwendung von Begriffen würde eingedämmt.
„Ausgrenzungen“ wären keinesfalls willkürlich, sondern klar nachvollziehbar und angemessen. Über den Bewegungsdiskurs lassen sich die Grenzen aber auch immer noch verschieben.
Die Öffentlichkeit würde die einzelnen Bewegungen mit ihren jeweiligen Zielen und ihren Gründen besser wahrnehmen und auseinanderhalten können.
Die Aktiven der Tierbewegung hätten eine viel geeignetere Grundlage dafür, die eigene Einstellung mit den Profilen der unterschiedlichen Bewegungen abzugleichen. Sowie sich über die anderen Bewegungen zu informieren, um gegebenenfalls überzuwechseln oder sich zusätzlich weiteren Bewegungen anzuschließen.
Man könnte endlich toleranter jenen gegenüber auftreten, die – in einer eigenen Bewegung – zum Beispiel organisierten Tierschutz betreiben. Jene würden dann Tierschutz im Namen der Tierschutzbewegung betreiben und ihre Tierrechtsposition (falls vorhanden) im Namen der Tierrechtsbewegung vertreten. Angesichts der Alternative (den Tierschutz im Namen der Tierrechte zu fördern) spricht vergleichsweise wenig dagegen, mehreren Bewegungen anzugehören, solange man sie auseinander halten kann und die jeweiligen Profile entsprechend respektiert.
Bei klaren Bewegungsprofilen können (bewegungs)geeignete – das heißt: dem Profil entsprechende – Ziele und Strategien besser erkannt und entwickelt werden. Es wird dann auch leichter sein, sich auf diese zu fokussieren.
Die Kooperationen zwischen den Bewegungen werden erleichtert, weil die Grenzen klar sind und nicht mehr die Gefahr der Verwässerung herrscht.9
Die Kampagnenarbeit kann weiterhin bewegungsübergreifend stattfinden, sofern es sich mit den Profilen und den Zielen der Bewegungen vereinbaren lässt.
Die Anerkennung von unterschiedlichen Einzelbewegungen mit jeweils eigenen Profilen macht es nicht mehr nötig, sich über ein einzelnes Profil – das der angeblich umfassenden „Tierrechtsbewegung“ – zu streiten. Klare Profilentwicklungen und Begriffsklarheit brächten etliche Vorteile mit sich, nicht nur den wichtigen Punkt, dass Streitigkeiten und Intoleranz innerhalb „der“ Bewegung abnehmen würden. Über die gemeinsame Tierbewegung würde man auch weiterhin eine gemeinsame Bewegung bilden und könnte auch weiterhin bewegungsübergreifend zusammenarbeiten. Politisch wäre man daher auch nicht geschwächt, sondern hätte zudem den Vorteil, dass Medien, Politik und Gesellschaft gleich mehrere Profile, Zielsetzungen und Begründungen zu sehen bekämen. Wir wären als Bewegung(en) wesentlich besser aufgestellt.
Konkurrenz der Einzelbewegungen
Positions- und Strategieansätze stehen zueinander in Konkurrenz um Wahrnehmung und Anerkennung in der Gesellschaft, aber auch um die Förderung / Ressourcen innerhalb der Tierbewegung. Die Unterteilung der Tierbewegung in mehrere Einzelbewegungen und Profile würde den Diskurs wesentlich entschärfen, weil es dann nicht mehr ums Ganze ginge („die“ Bewegung oder ihre Ausrichtung), sondern „nur“ noch um den Stellenwert der Einzelbewegungen in der Gesamtbewegung. Wir stritten dann nicht mehr darüber, ob die Tierrechtsbewegung den Tierschutz mit einschließe, sondern zum Beispiel darum, ob innerhalb der Tierbewegung der organisierte Tierschutz geeignet(er) ist, den sozialen Status, der nicht-menschlichen Tieren heute noch zugewiesen wird, und die Ausbeutungsstrukturen zu bekämpfen.
Den eigenen Einstellungen gerecht werden
Ist die Unterscheidung der Bewegungen nur eine intellektuelle Spielerei, ohne praktische Relevanz? Nein. Die Unterscheidung würde es erleichtern, die eigenen Einstellungen mit den gewählten Handlungen und Handlungsstrategien abzugleichen. Sie würde dabei helfen, zu erkennen, ob man sich tatsächlich (auch) für die eigentlichen Ziele hinter der eigenen Grundeinstellung einsetzt.
Abgrenzungen innerhalb der modernen Tierbewegung müssen nicht auf eine Hierarchie zwischen den Einzelbewegungen hinauslaufen oder den ein oder anderen Ansatz abwerten. Hier geht es darum, die Leute in ihren bestehenden, „eigentlichen“ Einstellungen gerade zu bestärken. Ich fordere sie dazu auf, sich über ihre Einstellungen einerseits und über ihre Handlungen andererseits bewusst zu werden und sich entsprechend (gegebenenfalls neu) zu verorten. Das heißt: Wer eine gewisse Einstellung hat, durch seine Handlungen jedoch nicht entsprechende Ziele fördert, sondern andere, vielleicht sogar entgegengesetzte, der macht etwas falsch. Er sollte dann entweder seine (zum Beispiel Tierrechts-)Einstellung oder seine Handlungen (zum Beispiel jene des organisierten Tierschutzes) anpassen. Wenn es von der geteilten Einstellung her dann sehr viel weniger „Tierrechtler“ im eigentlichen Sinne gäbe und die eigentliche Tierrechtsbewegung kleiner würde, dann nutzte das trotzdem allen. Dann würde sich niemand mehr etwas vormachen. Während die verbliebenen (eigentlichen) Tierrechtler geschlossener und unverfälschter ihre (die Tierrechts-)Ziele verfolgen könnten, würden jene sich neu Verortenden ihre jeweils anderen, eigenen, zum Beispiel Tierschutz-Ziele fördern. Dann jedoch unter der angemessenen Fahne des Tierschutzes. Manche werden aufgrund der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bewegungsprofilen aber auch ihre Handlungen und Handlungsstrategien ihren Einstellungen anpassen. Einige Aktive, die sich eher mit dem Tierrechts- oder dem Tierbefreiungsprofil identifizieren und dort ihre Einstellungen verorten, werden möglicherweise erkennen, dass ihre bisherigen Handlungsstrategien und ihr Aktivismus andere Ziele fördert, nicht jedoch jene, die man eigentlich hat und teilt: die Abschaffung der Tierausbeutung.
»Für die Akteure der Bewegung ist die
minimale Auseinandersetzung
mit der Theorie unabdingbar.
Anforderungen an die Aktivisten
Für die Akteure der Bewegung ist die minimale Auseinandersetzung mit der Theorie – das heißt: das grobe Verstehen der unterschiedlichen Profile und die Selbstverortung – unabdingbar. Sie schulden den Einzelbewegungen den Respekt, deren Profile nicht zu übergehen, wenn sie sich von ihren Einstellungen und Handlungen her der ein oder anderen Einzelbewegung öffentlich zurechnen und diese nach außen hin vertreten. Berechtigte Einwände gegen die ungerechtfertigte Verwendung und Zuschreibung von Begriffen wie „Tierrechte“ oder „Tierbefreiung“ dürfen nicht mehr übergangen werden. Die Diskurse wären öffentlich, sachlich und konstruktiv zu führen.
Ich verstehe sehr gut, dass einige Menschen relativ schnell überfordert sind und sich entsprechend weigern, begriffliche Unterscheidungen mitzumachen oder sich Gedanken zu den eigenen Einstellungen oder Handlungen zu machen. Jene aber, die nicht leicht überfordert sind, sollten sich im Eigeninteresse und im Interesse ihrer eigenen Bewegung(en) ein wenig mit den unterschiedlichen Profilen auseinandersetzen und auch als Multiplikatoren auftreten, damit sich die Klarheit über die jeweiligen Profile verbreitet.
Zum Vorgehen bei der Differenzierung
Es geht mir hier nicht um die Abwertung einer Position gegenüber der anderen. Also darum, welcher Position seitens der Theorie oder seitens der Strategie her der Vorzug gegeben werden sollte. Sondern darum, „einen Begriff“ davon zu vermitteln, welche Bedeutungen und Theorien hinter den Bezeichnungen stehen und welche Konsequenzen dies für die Bewegungen hat. Wenn ich mich bemühe, zum Beispiel „Tierbefreiung“ und „Tierbefreiungsbewegung“ oder „moderner Tierschutz“ zu erläutern, dann nicht mit der Absicht, für eine jeweilige Einstellung zu werben oder eine andere zu diskreditieren, sondern mit der Absicht, dass andere sich mit den Begriffen vertraut machen können und sich überlegen, wo sie selbst stehen (wollen). Wenn sie sich in einer Einstellung wiederfinden, können sie sich überlegen, ob sie sich entsprechend dieser Einstellung die richtigen Ziele gesetzt haben und entsprechend ihrer Ziele die richtigen Strategien verfolgen.
Neben dem (unterschiedlich ausführlichen) Erläutern einiger Begriffe – ihrer Bedeutungen und Unterschiede zu anderen Begriffen – ist die Betrachtung dessen wichtig, wohin sich die einzelnen Bewegungen bei uns bis heute entwickelt haben. Was die Bewegungen faktisch also ausmacht, welche Identitätsmerkmale sie haben.10 Die Ergebnisse der beiden Betrachtungen gilt es miteinander abzuwägen und konkrete Vorschläge für die jeweiligen Bewegungsprofile zu unterbreiten.11 Vorab sollte aber die Tierbewegung genauer charakterisiert werden.
Diskussion der „Tierbewegung“
Die moderne Tierbewegung, mit der wir es seit einigen Jahrzehnten zu tun haben, ist einerseits eine Bewegung, die mehrere Einzelbewegungen in sich einschließt, andererseits eine eigenständige Bewegung mit einem eigenen Profil. Sie umfasst all jene Menschen und Bewegungen, die sich aus ethischen Gründen öffentlich „für die Tiere“ einsetzen. Der sie ausmachende kleinste gemeinsame Nenner ist der Einsatz für die Verbesserung der Situation von nicht-menschlichen Tieren.
Die Wirkbereiche der Tierbewegung sind:
praktisch (direkt nicht-menschlichen
Tieren helfen, wenn sie konkret
hilfsbedürftig sind)
theoretisch (Fortentwicklung und Verbreitung von normativen
Begründungsansätzen)
aufklärerisch (Förderung des Bewusstseinswandels in der Gesellschaft)
wirtschaftlich (Beeinflussung der Wirtschaft)
politisch (Beeinflussung der Gesetzgebung oder Einsatz für alternative Gesellschaftsformen).
Die Tierbewegung ist meiner Kenntnis nach bisher noch nicht als solche benannt worden (außer unbestimmt als „Bewegung für Tiere“). Dennoch ist von ihr die Rede, wenn jede pro-Tier-Haltung in einen Topf geworfen und dieser nicht-gereinigte Topf dann „Tierrechtsbewegung“ genannt wird. Häufig liegt ihr keine konkrete Ansicht zugrunde, sondern ein Grundgefühl und eine Grundhaltung: dass nicht-menschliche Tiere „moralisch“ zu behandeln seien (was immer darunter konkret verstanden wird).
David DeGrazia unterscheidet drei Stufen von „moralischen Tierrechten“:
im schwächeren Sinne des moralischen Status („moral-status sense of (moral)‚ rights‘“; nicht-menschliche Tiere seien an sich moralisch zu berücksichtigen und nicht beliebig zu nutzen)
im Sinne der gleichen Berücksichtigung („equal-consideration sense“; die willkürliche Bevorzugung von Menschen sei ab zulehnen) und
im stärkeren Sinne von Rechten als Trümpfen („utility-trumping sense“, „strong animal-rights views“; die Nützlichkeit, der größte Nutzen für alle, spiele keine Rolle, utilitaristische Allgemein- wohlerwägungen seien abzulehnen).12
Der schwächere Sinn der „moralischen Tierrechte“ (erste Stufe) stellt den Minimalkonsens der Tierbewegung dar. Nicht-menschlichen Tieren wird ein moralischer Status zugesprochen, der gesellschaftlich anzuerkennen und entsprechend zu berücksichtigen sei. Die Gesellschaft behandle nicht-menschliche Tiere heute noch nicht „moralisch“, sondern beute sie rücksichtslos aus. Die Ansichten und Forderungen der unterschiedlichen Akteure in der Tierbewegung unterscheiden sich voneinander, haben jedoch zumindest gemeinsam, die Situation von nicht-menschlichen Tieren verbessern zu wollen.
Einer übergreifenden „Tierbewegung“ ein eigenes Feld einzuräumen wird dadurch legitim, dass viele Akteure der Bewegung sich gegen eine Spaltung und für eine breite Toleranz einsetzen. Das heißt, ein eindeutiges (also auch ausschließendes) Bewegungsprofil ablehnen und diese Einstellung mittels öffentlicher Veranstaltungen selbstbewusst vertreten. Sie sehen eine gemeinsame Bewegung von Menschen, die „für die Tiere“ aktiv werden und lehnen die Abwertung und den Ausschluss von Menschen und Gruppen aus der gemeinsamen (Tier-)Bewegung ab. So heißt es, es gäbe nicht den Königsweg, wie Tieren am besten geholfen werden könnte. Alle Herangehensweisen seien grundsätzlich wichtig oder würden zumindest nicht schaden und sollten deswegen toleriert werden. Auf einem niedrigen Level der Forderungen könnten die Menschen am ehesten für die Tierfrage sensibilisiert werden. Niemand sei als Tierrechtler geboren worden, die meisten würden sich schrittweise entwickeln. Dieser Ansicht ist Rechnung zu tragen. Doch auch die Tierbewegung kann und sollte Diskurse führen und sich entwickeln, zum Beispiel hinsichtlich der Zusammenarbeit mit gewissen Gruppen. Sie muss nicht nach allen Seiten hin offen sein. Faktisch gehören zunächst aber alle Menschen und Gruppen automatisch dieser Bewegung an, die sich im öffentlichen Raum für die Tiere einsetzen und für sie aktiv sind. Wenn zum Beispiel das Universelle Leben eine Innenstadt vollplakatieren lässt oder Nazis mal wieder das Schächten als Thema für sich entdecken, dann sind diese beiden Gruppen offensichtlich für die Tiere aktiv und gehören zumindest im weiten Sinne der Tierbewegung an (da diese keine Ausschlusskriterien hat). Dies heißt jedoch nicht, dass Akteure der Tierbewegung mit dem UL und seinen vielfachen Initiativen oder mit Nazis zusammenarbeiten müssten und sie nicht meiden dürften.
Die Einzelbewegungen der Tierbewegung
An Einzelbewegungen lassen sich meiner Erkenntnis nach ausmachen: klassischer (oder traditioneller) Tierschutz, moderner (oder konsequenter) Tierschutz, Tierrechtsbewegung, Tierbefreiungsbewegung, vegane Bewegung, Veggie-Bewegung. Die vegane und die Veggie-Bewegung führen auch andere, nicht-tierethische Beweggründe an. Sie fallen als Bewegungen meiner Meinung nach aber dennoch in die Tierbewegung, weil sie im Kern tierethisch motiviert sind.
Keine eigenständigen Bewegungen innerhalb der (tier)ethisch motivierten Tierbewegung machen meiner Ansicht nach der Artenschutz, der praktische Tierschutz, die „Hauptsache für die Tiere“-Fraktion, die Animal Liberation Front, die heutigen Antispe-Gruppen und der vegan Lifestyle aus. Die abolitionistische Bewegung nimmt eine Sonderrolle ein.
Abolitionistische Bewegung
Eine abolitionistische Bewegung, also eine, die sich für die Abschaffung der Tierausbeutung einsetzt, gibt es ganz offensichtlich. Dennoch würde ich sie nicht als Einzelbewegung anführen, weil in ihr die Tierrechts- und die Tierbefreiungsbewegung mit ihren unterschiedlichen Handlungsstrategien aufgehen würden und dann kein jeweils eigenes Profil mehr entwickeln könnten – das sie jedoch haben. Sie stellt vielmehr eine Dachbewegung dar, unter die neben der Tierrechts- und der Tierbefreiungsbewegung auch die vegane Bewegung fällt.
Von der Einstellung (also nicht der Strategie) her gibt es noch viel mehr Anhänger des Abolitionismus, als nur die Angehörigen der benannten drei Bewegungen. Relevant für die Zugehörigkeit zur abolitionistischen Bewegung ist jedoch nicht, ob man ebenfalls der Meinung ist, dass unsere Gesellschaft aufhören sollte, nicht-menschliche Tiere auszubeuten. Sondern ob man sich aktiv auch dafür einsetzt, das heißt, den abolitionistischen Ansatz verfolgt und nicht etwa einen reformistischen, der sich vordergründig lediglich darum bemüht, die Ausbeutung von Tieren zu regulieren.
Artenschutz
Der Artenschutz stellt eher keine eigene Bewegung innerhalb der Tierbewegung dar. Er hat nicht einzelne Tiere als Individuen als Gegenstand, sondern den Erhalt seltener, bedrohter und meist attraktiv anzusehender Tierarten. Ihm geht es vordergründig nicht darum, das Leben einzelner Tiere zu erhalten und zu verbessern. Individuen nicht-bedrohter Tierarten können problemlos zum Nutzen (zum Beispiel für die Fütterung) der Individuen der bedrohten Arten getötet werden. Fairerweise muss man sagen, dass der Artenschutz sich auch dafür einsetzt, den Lebensraum von Wildtieren zu schützen. In dieser Hinsicht begrüßt die Tierbewegung den Artenschutz.
Praktischer Tierschutz
Manche Tierschützer werden sich bei den folgenden Definitionen des „klassischen“ oder „modernen“ Tierschutzes nicht wiedererkennen, weil es ihnen zu theoretisch ist. Häufig sind sie (sogar) Veganer, die sich einfach nur besorgt und selbstverständlich für Tiere einsetzen. Für sie zählen diese Unterscheidungen nicht, auch nicht die von den Tierrechten, sondern das konkrete Handeln für die Tiere ist ihnen wichtig. Damit haben sie nicht unrecht. Es ist wichtig, dass es Menschen gibt, die sich für hilfsbedürftige Tiere einsetzen. Sie brauchen sich nicht mit Theorie auseinanderzusetzen. Der in diesem Sinne „praktische“ Tierschutz macht jedoch keine Bewegung aus. Eine Bewegung besteht nicht aus einer größeren Anzahl von Einzelpersonen, solange diese sich nicht organisieren und versuchen, ihnen gemeinsame Werte zu vermitteln. Der Bewegungs-Tierschutz im Folgenden meint nicht das direkte Aktivsein von Menschen für nicht-menschliche Tiere, sondern vielmehr den „organisierten“ Tierschutz, den sich im öffentlichen Raum positionierenden Tierschutz mit gesellschaftsorientierten Zielen.
„Hauptsache für die Tiere“-Fraktion
Der Ausdruck „Hauptsache für die Tiere“ steht für eine bestimmte Einstellung, nämlich sich ungeachtet anderer ethischen Aspekte hauptsächlich „für die Tiere“ einzusetzen. Die Zusammenarbeit mit Nazis, mit menschenverachtenden Sekten oder totalitär/autoritär geführten Gruppen, aber auch Manipulationsstrategien am Infotisch zum Beispiel, werden damit verteidigt, dass dies „für die Tiere“ nützlich sei. Für eine breite Bewegung sei es förderlich, selbst die Querfront-Strategien von anti-emanzipatorischen Gruppen zu tolerieren. Selbst dann, wenn man sich prinzipiell von ihnen distanziere. Es solle innerhalb der Bewegung keine oder kaum Ausgrenzung von Menschen und Gruppen geben, die sich für die Tiere einsetzen.
Weil diese Einstellung keine Seltenheit ist, sondern eine (noch) häufig anzutreffende, für die sich innerhalb der Bewegung aktiv einsetzt wird, spreche ich in früheren Artikeln von einer „Hauptsache für die Tiere“-Fraktion.13 Diese Fraktion macht jedoch keine eigene Bewegung aus, sondern wirbt innerhalb der Tierbewegung darum, dass ihre radikal-tolerante Sichtweise von der Bewegung angenommen wird.
Animal Liberation Front
Direkte Aktionen der Animal Liberation Front (ALF)14 können übergreifend der Tierbefreiungs-, der Tierrechts-, aber selbst auch der Tierschutzbewegung zugesprochen werden. Die Sabotage von Ausbeutungsmitteln oder die Befreiung von nicht-menschlichen Tieren aus einer Haltung kann unterschiedlich begründet werden. Eine eigene Bewegung macht die ALF nicht aus, weil sie die direkten Aktionen nicht als solche bewirbt, sondern als Mittel des Widerstands gegen die Tierausbeutung lediglich anwendet. Die ALF geht in der abolitionistischen Bewegung auf.
Heutige Antispe-Gruppen
Sollte in Abgrenzung zur Tierbefreiungsbewegung von einer eigenen Antispe-Bewegung die Rede sein? So wie die vegane Bewegung von der Veggie-Bewegung zu unterscheiden ist und der moderne Tierschutz vom klassischen? Ich bin da etwas unentschieden. Das unterscheidende Merkmal einer Antispe-Bewegung könnte sein, dass sie etwas weniger theoretisch ist als die Tierbefreiungsbewegung und statt dessen eher praktisch agiert – als herrschaftskritischer, antikapitalistischer, antispeziesistischer, antisexistischer und antifaschistischer, kurz: Total-Liberation-Black-Block. Als ihr Slogan ließe sich ausmachen: „Words mean nothing, action is everything.“ Sie stellt sich gegen die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen und nicht-menschlichen Tieren und geht auch direkt gegen diese an. Meiner Ansicht nach weist sie jedoch kein eigenes konkretes theoretisches Gerüst auf. Manche Kritiker meinen, die heutigen Antispe-Gruppen (ältere Gruppierungen und die Tübinger Antispe-Gruppe fallen aus diesem Rahmen heraus) unterschieden sich vor allem durch ihr „militantes Gehabe“ von der Tierrechts- und der Tierbefreiungsbewegung. Nicht wenige ihrer Aktivisten seien sehr jung und blieben leider auch nicht lange aktiv. Die Benennung einer eigenen Bewegung scheint mir daher zu kleinlich. Eine zu starke Aufsplitterung der Bewegung nutzt auch nicht der Sache.15
Vegan Lifestyle
Der „vegane Lebensstil“ ist eine Begleiterscheinung der Tierbewegung. Er lässt sich weder einer einzelnen Bewegung zuordnen, noch macht er eine eigene Bewegung aus (und wenn doch, dann keine innerhalb der ethisch motivierten Tierbewegung). Viele Menschen innerhalb der unterschiedlichen Einzelbewegungen leben nicht nur konsequent (das heißt: aufgrund ihrer persönlichen ethischen Einstellungen) vegan, sondern sie leben dies auch in einem gewissen sozialen Milieu, der veganen Szene, aus. Sie gehen beispielsweise zu Vegan- und Veggie-Veranstaltungen, um sich dort mit Veganern zu treffen und vegane Produkte zu konsumieren.
Der vegan Lifestyle verdient deswegen Beachtung, weil er die Tierbewegung in mehrerer Hinsicht beeinflusst. Über die vorgelebte oder gar zelebrierte vegane Lebensweise kommen Menschen aus dem sozialen Umfeld von Lifestyle-Veganern in Kontakt mit tierethischen Einstellungen. Über Gespräche oder den Konsum veganer Produkte beginnen sie, sich mit der Produktion tierlicher Produkte auseinanderzusetzen. Manche werden daraufhin Veganer. Ein anderer Aspekt ist, dass der vegan Lifestyle Ressourcen bindet, die zuvor der Tierbewegung zur Verfügung standen, dann aber weniger. Manche am Rande noch Aktive der Tierbewegung gehen im vegan Lifestyle auf – und versinken darin. Sie nutzen die vegane Infrastruktur für „Socializing“ (Veganer-Bekannte treffen) und den Konsum. Genuss und Erholung bekommen einen höheren Stellenwert als der Aktivismus, welcher gelegentlich abnimmt.16 Der wesentliche Unterschied zur veganen Bewegung besteht darin, dass der vegan Lifestyle den Veganismus nicht aktivistisch bewirbt, sondern ihn lebt. Viele Lifestyle-Veganer engagieren sich zusätzlich auch in der veganen oder in der Veggie-Bewegung. Der vegan Lifestyle stellt aber keine eigene Bewegung dar.
Diskussion der veganen Bewegung
Die vegane Bewegung bewirbt die vegane Lebensweise, also ein Leben, das ohne Tierausbeutungsprodukte geführt wird. Sie hat aber auch die wichtige Aufgabe, eine vegane Infrastruktur auszubauen und bekannt zu machen. Sie erleichtert es Menschen, konsequent nach ihren (neuen) ethischen Ansichten zu leben. Ihre Motive sind vielfältig, hauptsächlich jedoch ethisch motiviert, denn sonst bräuchte man die vegane Lebensweise nicht zu fördern versuchen. Die ethischen Gründe für die vegane Ernährung beziehen sich auf nicht-menschliche Tiere (dass Tieren kein Leid zugefügt oder aber, dass sie nicht instrumentalisiert, sondern ihre Autonomie geachtet werden sollte), aber auch auf Menschen: dass wir – vor allem mit Hinblick auf die kommenden Generationen – unsere Umwelt, unsere Ressourcen und unser Klima schonen und die Grünflächen für Nahrungs- und nicht für Futtermittel nutzen sollten. Es geht auch um die Sozial- und Wirtschaftsverträglichkeit.17
Selbst wenn die vegane Bewegung nicht vollständig in der abolitionistischen Bewegung aufgeht, kann sie ihr doch zugezählt werden. Die abolitionistische Bewegung tritt politischer und umfassender auf. Sie fordert auch auf der gesellschaftlichen Ebene die Abschaffung der Tierausbeutungsindustrie, während die vegane Bewegung sich eher um den Bewusstseins- und Lebenswandel bei Einzelnen oder in der Gesellschaft bemüht und sich vor allem auf die Bereiche des (Nahrungs-)Konsums spezialisiert.
Die vegane Bewegung birgt außerdem das Potential, „Lifestyle-Veganer“ zu aktivieren. Viele (Neu-)Veganer sind noch nicht aktiv, sie kennen sich mit den Bewegungsansätzen nicht aus, identifizieren sich entsprechend noch nicht mit einem bestimmten Bewegungsprofil, möchten sich aber ethisch motiviert für die Verbreitung der veganen Idee einsetzen. Für viele Veganer ist die vegane Bewegung die erste aktivistische Station in ihrem Engagement für nicht-menschliche Tiere. Ein vermittelndes Bindeglied ist zum Beispiel der Veggie Street Day in mehreren deutschen Städten. Lifestyle-Veganer gehen primär wegen des Konsums und Socializings hin, bekommen darüber hinaus aber auch Tierrechts-(etc.)-Inhalte geboten und lernen Menschen kennen, die bereits für die Tiere aktiv sind.
Diskussion der Veggie-Bewegung
Viele Akteure der Veggie-Bewegung (vor allem die federführenden) leben selbst zwar vegan, bewerben dies jedoch nicht oder wenig direkt, sondern verfolgen eine Strategie der bescheidenen Schritte. Im Gegensatz zur veganen Bewegung bewirbt die Veggie-Bewegung nicht nur die rein vegane Lebensweise und allein die veganen Produkte, sondern darüber hinaus auch vegetarische Produkte und die vegetarische, aber auch die fleischreduzierte Lebensweise. Sie setzt sich zum Beispiel dafür ein, dass Großküchen den Veggie-Anteil erhöhen, dass in öffentlichen Kantinen ein fleischfreier Tag eingeführt wird, dass Menschen ihren Fleischkonsum reduzieren (Halbzeit-vegetarier-Projekt und Präsentationen des VEBU), aber auch, dass die auf Tiernutzung basierende Produktion von Lebensmitteln „humaner“ wird. Die Konsumenten sollen „eine andere Einstellung zu dem, was wir uns täglich einverleiben“, entwickeln, sie sollen das Fleisch und die Tier-Produkte, die sie essen, wertschätzen, indem es unter tiergerechteren Bedingungen produziert und teurer wird.18
Diskussion von „Tierschutz“
Der Bezugspunkt des Tierschutzes sind die Leiden der Tiere, die Leidensfähigkeit, auf die mehr oder weniger stark Rücksicht genommen werden solle. Es lassen sich zwei eigentlich eigenständige Tierschutzbewegungen ausmachen.19 Die eine repräsentiert den klassischen (oder traditionellen) Tierschutz. Sein Ziel ist die Minimierung von Tierleid auf ein „notwendiges“ Maß (regulative Reformen, Minimierungsreformen). Ihm steht die Ansicht zugrunde, dass wir Menschen nicht-menschliche Tiere grundsätzlich für unsere Zwecke nutzen dürften, sie jedoch schonend zu behandeln hätten.20 Diese Tierschutz-Einstellung entspricht großteils DeGrazias schwächeren ersten Stufe der „Tierrechte“ (Tiere haben einen moralischen Status und sind grundsätzlich moralisch zu berücksichtigen).
Die andere repräsentiert den modernen (oder konsequenten) Tierschutz. Sein Ziel ist zum einen die Minimierung von Tierleid auf ein „erreichbares“ Maß (Minimierungsreformen), darüber hinaus aber auch die Vermeidung „unnötigen“ Tierleids (prohibitive Reformen, Verbotsreformen). Häufig wird der moderne Tierschutz als Strategie für Tierrechtsbestrebungen gewählt. Die Idee dahinter ist, dass regulative (Minimierungs-) und/oder prohibitive (Verbots-) Reformen irgendwann einmal zur Abschaffung der Tiernutzung führen würden. Die Regulation führe über die fortschreitend verschärften Tierschutzgesetze zur Schwächung der tierausbeutenden Industrie. Mit der Zeit würde sich die Tierausbeutung für die Industrie immer weniger lohnen, ohne Tierausbeutung zu produzieren jedoch immer mehr. Über den ansteigenden Preis, der für Tierausbeutungsprodukte zu zahlen wäre, würde sich das Konsumverhalten der Massen ändern. Die Nachfrage und die Produktion von tierfreien, veganen Lebensmitteln würde kontinuierlich ansteigen, ebenso das tier-ethische Bewusstsein der Konsumenten. So die Theorie.21
Der Tierschutz kann sich nun dafür einsetzen, dass Sequenzen der Tiernutzung reguliert oder Segmente der Tiernutzung verboten werden. Mit Sequenzen sind einzelne Bestandteile aus der Abfolge einer bestimmten Tiernutzung gemeint (Kettenglieder). Reguliert werden können zum Beispiel die Art der Kastration von Schweinen, die Transportzeiten zum Schlachthof, das Vorgehen bei den Tötungen etc. (regulative Reformen). Die Tiernutzung an sich wird durch die Regulierung von Sequenzen nicht angegriffen. Mit Segmenten sind einzelne Arten der Tiernutzung gemeint, die komplett eingestellt werden sollen. Verboten werden können zum Beispiel die Art der Nutzung bestimmter Tiere (Käfighaltung von „Legehühnern“, Kleinkäfige für Nerze, Einzelhaltung von Kälbern) oder die Art der genutzten Tierarten (zum Beispiel Experimente mit Menschenaffen, Gefangenhaltung von Menschenaffen in Zoos oder die Vorführung von Wildtieren in Zirkussen). Theoretisch können prohibitive Reformen dazu führen, dass eine bestimmte Art der Tiernutzung ersatzlos eingestellt wird (damit würden sie auch dem Ziel der abolitionistischen Bewegung entsprechen). So ist in manchen Ländern die Existenz von Pelzfarmen „quasi“ verboten, weil die neuen gesetzlichen Haltungsvorschriften das kommerzielle Betreiben einer „Pelzfarm“ unrentabel machen. Das Verbot der Käfighaltung von Hühnern führt jedoch nicht zum „Quasiverbot“ der Hühnerhaltung.
Diskussion von „Tierrechten“
Voneinander zu unterscheiden sind moralische und gesetzliche Rechte. Moralische Tierrechte sind jene, die wir nicht-menschlichen Tieren mittels moralphilosophischer Begründung zusprechen. Gesetzliche Tierrechte sind jene Rechte, die gesetzlich institutionalisiert sind („legal rights“). Sie müssen sich nicht mit den moralischen decken. Die Unterscheidung moralische versus gesetzliche Rechte macht Sinn, wenn es um die gesetzliche Legitimierung geht. Gesetzesänderungen finden stufenweise und gegen viel Widerstand statt. Moralische Rechte sind ideale Rechte, auf ihre Umsetzbarkeit muss nicht Bezug genommen werden. Gesetzliche Rechte unterliegen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und müssen ausgehandelt werden. Es ist klar, dass sich eine Gesellschaft nicht sofort radikal wandeln wird, wenn sie die moralischen Grundrechte der Tiere anerkennt.
Rechte gibt es nicht in der Natur (auch keine „Menschenrechte“), sondern sie werden (von uns Menschen) zugeschrieben. Die Zuschreibung moralischer Rechte muss jedoch
nicht willkürlich sein. Als ethisch relevantes Kriterium dafür kann die Empfindungsfähigkeit angesehen werden.22 Wenn Interessen nicht durch Rechte geschützt werden, dann gibt es keinen Anspruch
auf deren Erfüllung. Ohne moralische Rechte gibt es bestenfalls eine Güterabwägung, einen Werte-Vergleich.
Auf der Ebene der Tierrechte streiten Theoretiker miteinander darum, ob nicht-menschlichen, empfindungsfähigen Tieren, die keine „Personen“ sind, gleiche Rechte
zukommen sollten (Grundrechte, Egalitarismus), oder ob die Rechte-Vergabe abhängig sein soll von dem Grad oder der Art ihres Geistes (keine grundsätzlich vollwertigen Rechte, Hierarchie). Rechte
kann es entsprechend unterschiedlicher Art geben. Die Begründung der Menschenrechte und die Zurückweisung des Speziesismus nutzen einige Theoretiker dafür, eben jene Rechte auch auf andere
Spezies auszudehnen. Wir haben es dann mit einer erweiterten Theorie der Menschenrechte zu tun.23 Die Argumentation besteht dann darin, die speziesistische Ungleichbehandlung / Diskriminierung
zurückzuweisen und die Empfindungsfähigkeit oder die Autonomie-Präferenz (die Fähigkeit, sich für gewisse Zustände zu entscheiden) als moralisch relevant hervorzuheben. Rechte würden in Form von
„Trümpfen“ zugesprochen werden, dann gelten sie grundsätzlich und entsprechen Grundrechten wie dem Recht auf Freiheit, dem Recht auf Leben, dem Recht darauf, nicht willentlich geschädigt zu
werden.
„Tierrechte“ müssen aber nicht unbedingt in Anlehnung an die Menschenrechte als deren Erweiterung formuliert werden. Sie können auch konkret auf nicht-menschliche Tiere zugeschnitten sein. Die Argumentation lautet dann, dass (gewisse) nicht-menschliche Tiere (gewisse) Bedürfnisse hätten, sowie ein moralisches Anrecht auf entsprechend „artgerechte Behandlung“. Gesetze sollten die Haltungsbedingungen regulieren. Nicht mitgetragen wird hier die Forderung und Förderung eines revolutionär-anderen moralischen Status für nicht-menschliche Tiere. Rechte würden dann zugesprochen werden als das Recht auf eine gewisse Käfiggröße, das Recht, einen Monat lang mit seinem Neugeborenen zusammen leben zu dürfen, das Recht auf eine begrenzte Transportzeit, das Recht auf medizinische Versorgung. Im schwachen Sinne könnte man also auch bei manchen regulativen und prohibitiven Reformen von „Tierrechten“ reden. Man müsste dann sagen: „Hühner haben das Recht auf einen größeren Käfig, darauf, ihre Flügel ausstrecken zu können.“ Oder: „Tiere haben das Recht, ‚human‘ getötet zu werden und nicht von ungelernten Arbeitern im Akkord.“ Das sind dann aber eher Tierschutz-Rechte („welfare rights“), weniger Tierrechts-Rechte. Konsens der (eigentlichen) Tierrechtsbewegung ist jedoch, dass mit „Tierrechten“ nicht das Recht auf einen größeren Käfig oder auf eine humane Tötung gemeint sein kann, sondern (aufgrund der Eigenschaft, empfindungsfähig oder zusätzlich auch präferenz-autonom – das heißt: fähig und willens, Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen – zu sein) die Grundrechte auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit.
Diskussion von „Tierbefreiung“ I
Zwei unterschiedliche Bedeutungen von „Tierbefreiung“ haben Peter Singer und die Berliner Tierbefreiungsaktion (BerTA) dargelegt. Die moderne Tier(!)bewegung verdanken wir meiner Ansicht nach vor allem Peter Singer, weshalb ich ihn etwas ausführlicher behandle und bewegungsübergreifend diskutiere. Von Singer erschien 1975 das damals bahnbrechende Buch Animal Liberation.24 Auf der Basis des im englisch-sprachigen Raum stärker vertretenen Utilitarismus präsentierte Singer eine damals revolutionäre, paradigmenwechselnde philosophische Grundlage, der zufolge nicht-menschliche Tiere einen anderen Stellenwert als bisher in der Moral einnehmen sollten. Seit Animal Liberation müssen sich jene, die die Leiden und Interessen nicht-menschlicher Tiere nicht oder geringer berücksichtigen, die Zuschreibung einer moralisch unzulässigen Diskriminierung – des Speziesismus – gefallen lassen.
Gewisse Ansichten von Singer, die mittlerweile mehr oder weniger von der westlichen Gesellschaft geteilt werden, sind:
1) Nicht-menschliche Tiere sind aufgrund ihrer Leidensfähigkeit und ihrer Fähigkeit, Interessen zu haben, an sich moralisch zu berücksichtigen. Sie sind keine Dinge,
über die wir willkürlich verfügen könnten oder die wir lediglich indirekt (mit Hinblick auf uns Menschen) beachten müssten. Sondern sie sind aufgrund der Möglichkeit, ihnen Schaden zuzufügen,
welcher ihr „gutes Leben“ beeinträchtigt, Wesen, die „an sich“ / „für sich“ moralisch zu berücksichtigen sind. Somit gehören auch sie zur „moralischen Sphäre“, sie haben einen „moralischen
Status“. Ihre Interessen sind moralisch relevant (Interessensprinzip).
2) Die Interessen von nicht-menschlichen Tieren sind nicht geringerwertig zu berücksichtigen als jene von Menschen. Gleiches oder Ähnliches soll auch gleich oder
ähnlich behandelt werden Gleichheitsprinzip). Andernfalls haben wir es mit einer willkürlichen Diskriminierung zu tun (Speziesismus).
Nach Singer sind nicht-menschliche Tiere aus dem (noch) bestehenden Diskriminierungsverhältnis des „Speziesismus“ zu befreien. Das heißt: Ebenso wie wir es als
westliche Gesellschaften ablehnen, dass die Interessen von Frauen oder Angehörigen gewisser ethnischer Gruppen nicht oder geringer berücksichtigt und diese somit diskriminiert und unterdrückt
werden (Sexismus, Rassismus), sollten wir es auch ablehnen, die Interessen von nicht-menschlichen Tieren nicht oder geringer zu berücksichtigen. Das zentrale moralische Prinzip Singers ist somit
das Prinzip der gleichen Interessenabwägung. Diesem zufolge darf uns bei der Frage moralischer Handlungen nicht interessieren, wer oder was der Träger von Interessen ist. Sobald unsere Handlungen
die Interessen anderer beeinträchtigen könnten, sollten wir abwägen, welche Handlung im besten Interesse aller (!) Betroffenen ist.
Wie sieht es bei Peter Singer mit Rechten aus? Die Einführung von „Rechten“ sieht der Utilitarist Singer als nicht notwendig an, um die Interessen von Interessenträgern angemessen zu berücksichtigen, sondern eher als hinderlich. Rechte stehen der unvoreingenommenen Abwägung von Interessen entgegen. Institutionalisierte Rechte führen gerade dazu, dass eben nicht alle Interessen gegeneinander abgewogen werden können. Rechteinhaber sind vielmehr privilegiert.25 Das heißt: Sie haben vor jeder utilitaristischen Abwägung einen besonderen moralischen oder rechtlichen Stand, der sie vor Allgemeinwohlerwägungen und gewissen Behandlungen schützt.
Singers Vorstellung von der „Befreiung der Tiere“ macht also aus, dass die Interessen von nicht-menschlichen Tieren (ebenfalls) gleichwertig zu berücksichtigen seien und die nicht-menschlichen Tiere entsprechend nicht weiter diskriminiert werden sollten. Diese Vorstellung spricht jedoch nicht grundsätzlich dagegen, dass wir Tiere für unsere Zwecke nutzen dürfen. Wir bräuchten unsere Einstellung Tieren gegenüber nicht insofern ändern, dass sie ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hätten und wir kein Recht, uns beeinträchtigend einzumischen. Sondern es reichte, Tieren einen moralischen Status zuzusprechen (DeGrazia: erste Stufe der „Tierrechte“) und sie gleichermaßen zu berücksichtigen (zweite Stufe der „Tierrechte“).26 Die Position Singers wird für gewöhnlich nicht als „Tierbefreiungsposition“ angesehen.
Diskussion von „Tierbefreiung“ II
Eine andere Bedeutung von „Tierbefreiung“ macht vor allem die Berliner Tierbefreiungsaktion (BerTA) stark.27 Zunächst gelte es, das gegenwärtige, diskriminierende Mensch-Tier-Verhältnis – vor allem im Bewusstsein der Menschen – aufzuheben. Die Bezeichnungen „das Tier“ oder „Tiere“ werden dazu als Konstruktionen und Kategorien zurückgewiesen. Ebenso die Kategorien „Nutztier“, „Versuchstier“, „Schädling“, „Haustier“. Sie werden nicht anerkannt in Form von Reformbestrebungen bezüglich deren Zucht, Haltung, Nutzung, Tötung. Die kategoriale „Mensch-Tier“-Unterscheidung soll aufgehoben werden. Auch wir Menschen sind Tiere. Außerdem gibt es Unterschiede zwischen den Arten und den Individuen innerhalb einer Art (sofern es noch sinnvoll ist, überhaupt von Arten zu reden). Tierliche Lebewesen sollten als autonome (und überhaupt: als) Individuen angesehen werden, nicht als Mitglieder einer bestimmten Spezies, für die es gewisse konkrete Rechte gäbe.
Das allgemein vorherrschende Verständnis der legitimen Ausbeutung von nicht-menschlichen Tieren wird jedoch nicht als ein Phänomen angesehen, das mit Aufklärung allein wegdiskutiert werden, von dem sich unsere Gesellschaft ohne weiteres wegentwickeln könnte. Sondern es seien die vorherrschenden und verfestigten gesellschaftlichen Strukturen, die dazu aufgebrochen werden müssten. Diese beträfen nicht nur nicht-menschliche Tiere. Die Befreiungsidee beginne oder ende somit weder bei nicht-menschlichen Tieren, noch bei Menschen. Ihr emanzipatorischer Gehalt greift die gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen an sich an. Tiere (zu denen auch wir Menschen gehören) sollten nicht als verwertbare Objekte der Ausbeutung angesehen und behandelt werden. Das Ziel sei entsprechend eine herrschaftsfreie Gesellschaft ohne Unterdrückung und Ausbeutung.
Der herrschafts- und gesellschaftskritische Ansatz versteht unter „Tierbefreiung“ vor allem die Befreiung der nicht-menschlichen Tiere aus dem Herrschaftsverständnis und -verhältnis der Menschen, nicht die Klärung konkurrierender Rechtsansprüche. Die BerTA bezweifelt, dass „das Ziel der Abschaffung der Ausbeutung und Nutzung nichtmenschlicher Tiere über die Forderung nach Tierrechten erreicht werden kann“. Ein Aspekt ist, dass moralische Rechte nicht einfach so verliehen würden, sondern aufgrund gewisser Eigenschaften von Individuen, die dies rechtfertigten. An gesetzlichen Rechten würden dann, so die Annahme, nicht Grundrechte bestimmt, sondern geringere Schutz- und Anspruchsrechte (wie zum Beispiel auf größere Käfige oder den Schutz vor willkürlicher Gewalt). Somit ergäbe sich nicht die Forderung der Abschaffung von Tiernutzung, sondern lediglich die nach Reformen der Tiernutzung.28 Auch die rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung wird von der BerTA zurückgewiesen. Wenn gesellschaftskritische Tierbefreier trotz der Distanzierung dennoch von einer gemeinsamen „Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung“ reden, meinen sie damit im Grunde, dass (auch) die Tierrechtsbewegung das Tierbefreiungsprofil übernehmen, von der Tierbefreiungsbewegung also geschluckt werden sollte.
Der historisch-materielle Ansatz (oder auch Marxismus) der Tierrechtsaktion Nord (TAN) oder heutigen Assoziation Dämmerung (AD) bringt mit der radikalen Kapitalismuskritik einen konkreten Aspekt der Gesellschaftskritik ins Spiel. Es könne keine befreite Gesellschaft geben, solange „der Kapitalismus“ als Hauptwiderspruch nicht überwunden sei. Solange Lohnarbeit veräußert werden muss, die Ökonomie auf Verwertung der Natur, ungebremstes Wachstum und die Vermehrung von Kapital ausgelegt sei, Individuen – vor allem tierliche – im Vergleich zum Recht auf Profit nicht zählten und nicht nach den Bedürfnissen der Menschen produziert wird, würde es immer Opfer des Systems und auch Tierausbeutung geben. Eine kapitalistische Gesellschaft ohne Ausbeutung sei nicht denkbar.29
Nun gilt es, einen Vorschlag dafür zu machen, was das Tierbefreiungsprofil ausmache. Singers Ansatz der Befreiung der Tiere ist sicherlich zu weit gefasst. Innerhalb seines Ansatzes wäre Tiernutzung und Tierausbeutung möglich, es ist kein abolitionistischer Ansatz. Offensichtlich bestehender Konsens der Tierbefreiungsbewegung ist jedoch, dass nicht-menschliche Tiere nicht mehr für unsere Zwecke nutzbar gemacht werden sollten. Der gesellschaftskritische Ansatz zielt zum einen auf die Analyse gesellschaftlicher Strukturen, zum anderen auf die grundsätzliche Ablehnung des Kapitalismus und selbst der bestehenden (parlamentarischen) Gesellschaftsordnung. Ich glaube, die real existierende Tierbefreiungsbewegung geht (noch) nicht so weit. Solange das kapitalismuskritische Konzept nicht konkreter ausgearbeitet ist und von der Tierbefreiungsbewegung angenommen und auch umgesetzt wird, würde ich vorschlagen, bei der Bildung des Tierbefreiungsprofils diesen Aspekt noch zurückzustellen. Es bleibt also noch die Analyse und die Kritik an der sozialen Stellung der nicht-menschlichen Tiere in der Vorstellung und Praxis der Gesellschaft, sowie die Analyse und Kritik an den vorherrschenden Unterdrückungsstrukturen.
Während es der Tierrechtsbewegung darum geht, dass nicht-menschliche Tiere innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Systems Grundrechte zugesprochen bekommen sollen, sieht die Tierbefreiungsbewegung gerade im herrschenden Gesellschaftssystem die Grundlage für die Unterdrückung von (übrigens auch menschlichen) Tieren. Entsprechend nahe steht die Tierbefreiungsbewegung anderen sozialen Bewegungen.
Zur Frage der Zugehörigkeit
Selbst wenn jemand vegan lebt und persönlich weitreichendere Ziele im Sinn hat, als er tatsächlich fördert, ist die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Bewegung daran zu messen, ob er ihr Profil respektiert und sich mit diesem identifiziert, entsprechend die Handlungsstrategien teilt, ihre Ziele öffentlich benennt und diese vor allem dann auch verfolgt. Doch nicht Menschen sollen primär der einen oder anderen Bewegung hinzugezählt und als Menschen kategorisiert werden. Sondern ihre jeweiligen Handlungen und Einstellungen. Diese lassen sich gesammelt oft nicht eindeutig einer einzigen Bewegung zuordnen. So kann jemand vielerlei Einstellungen haben. Zum Beispiel jene, Tiernutzung grundsätzlich abzulehnen und sich eine Gesellschaft zu wünschen, die ohne Tiernutzung auskommt (was einer Tierrechtseinstellung gleichkommt), zugleich aber auch die Einstellung, sich im Hier und Jetzt für die Lebensverbesserung von „Nutztieren“ oder „Haustieren“ einsetzen zu sollen (was einer „praktischen“ Tierschutzeinstellung gleichkommt). So jemand gehört von der Grundeinstellung her der Tierrechtsbewegung an, während er aufgrund des Handlungsansatzes „praktischer Tierschützer“ wäre. Hier besteht kein Konflikt. Wer gemäß seiner Grundeinstellung Tierausbeutung ablehnt, in seinem Aktivismus jedoch nicht deren Abschaffung fordert und fördert, sondern lediglich deren Regulierung, bei dem besteht ein Widerspruch zwischen seiner Einstellung und seinem Aktivismus. Er gehört dann an seinem Aktivismus gemessen nicht der Tierrechtsbewegung, sondern der Bewegung des organisierten Tierschutzes an.
Mögliche Kooperationen
An einer Kampagne wie Stop Huntington Animal Cruelty (SHAC), die Tierquälerei als Grundlage hat (zum Beispiel videodokumentiertes, willkürliches Schlagen von Tieren, die für Experimente benutzt werden), können und sollten sich mehrere Bewegungen beteiligen. Für Tierschützer sollte klar sein, dass diese Institution der offensichtlichen Tierquälerei bekämpft werden sollte. Aber auch die Tierbefreiungs- und die Tierrechtsbewegung beteiligen sich an der Kampagne gegen ein einzelnes Unternehmen, selbst wenn bei erfolgreichem Kampagnenende die Aufträge letztlich nicht eingestellt, sondern an andere Tierversuchslabore weitervergeben werden. Der Öffentlichkeit wird vor Augen gehalten, wie es hinter den Kulissen eines der größten Tierversuchslabore, Huntington Life Sciences (HLS), aussieht. Damit wird nicht nur erreicht, dass
Tierquälerei eingestellt,
ein bestimmtes Unternehmen von der Öffentlichkeit wegen Tierquälerei verurteilt wird, im Laufe der Kampagne bankrottgeht und sich
aufgrund der gestiegenen Sensibilität der Bevölkerung die Politik und die Industrie etwas bewegen und den Tierschutzstandard oder die Kontrollen ein wenig erhöhen. Sondern die Thematik der Tierversuche und der Tierausbeutung insgesamt kann in die Wahrnehmung und das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt und somit der gesellschaftliche Wandel gefördert werden.
Auch manches reformistische Vorgehen kann von Tierrechtlern oder Tierbefreiern, denen es um die Abschaffung von Tiernutzung geht, widerspruchslos mitgetragen werden. Wenn es sich abzeichnet, dass eine tierschützerisch vorgehende Kampagne dazu führt, dass eine Tiernutzungsart eingestellt werden muss und die Tierausbeutung nicht auf andere Bereiche oder Länder verschoben wird, dann entspricht dieser Tierschutz auch den Zielen eines Tierrechtlers oder Tierbefreiers. Tierrechtspositionen und Tierschutzaktionen sind nicht in jedem Fall klar voneinander zu trennen. Zu einer Tierrechtsaktion würde sie allerdings erst dann, wenn entsprechend des Profils die Beweggründe und das Ziel der Tierrechtsbewegung (die Abschaffung von Tiernutzung) mitkommuniziert würden.
Unabhängigkeit (in) der Tierbewegung
Die Tierbewegung selbst tritt mit ihrem radikal-toleranten Profil in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung und konkurriert nicht gegen die Einzelbewegungen. Andernfalls würde sie ihre Funktion als Dachbewegung einbüßen. Die eigenständigen Einzelbewegungen mit ihren eigenen (das heißt: sich abgrenzenden) Profilen wären vielmehr davor zu schützen, dass ihre jeweiligen (teils radikalen) Ziele nicht verflachen und sie dadurch nahezu profillos werden. Klare Profile fördern die Identifikation mit einer entsprechenden Bewegung und die Motivation, in ihr mitzuwirken.
Auch einzelne Bewegungen dürften nicht versuchen, das Aushängeschild der gemeinsamen Tierbewegung zu werden. Die moderne Tierbewegung muss notwendig tolerant und unabhängig sein. Bescheidenheit ist hier notwendig. Ein Profil gilt nur für die jeweilige Bewegung. Die Profile anderer Bewegungen müssen – als solche – respektiert werden. Sie dürfen kritisiert, aber nicht unterschlagen und unterdrückt werden. Innerhalb der Tierbewegung führt der Diskurs zu einer gesunden Konkurrenz um Anerkennung und Aktivisten. Ein Kampf darum, das Sprachrohr der gemeinsamen Bewegung zu sein, wäre hier aber deplatziert und schädlich. Das haben wir bisher in der „Tierrechtsbewegung“; dieses sinnlose Aufreiben aneinander will aber niemand mehr. Die moderne Tierbewegung stellt vielmehr den gemeinsamen Rahmen für voneinander unabhängige Einzelbewegungen dar, die eine verbindende Gemeinsamkeit haben: tierethisch motiviert zu sein. In ihr müssen die Einzelprofile gewahrt und vor Versuchen der Verwässerung oder der Unterdrückung geschützt werden.
»Wir dürfen nicht mehr davon ausgehen,
dass es „die eine“ Bewegung gibt.
Fazit
Meine Vorschläge sollten im Sinne aller sein, das heißt zumindest all jener, die nicht versuchen, anderen über Streitigkeiten ihre eigenen Vorstellungen aufzustülpen. Lieber eine gut aufgestellte (Tier-)Bewegung ohne Streit (sondern mit kritischen Diskursen in sachlicher Konkurrenz zueinander), als eine selbstwidersprüchliche Gemeinschafts-(„Tierrechts“-)Bewegung mit Streit. Aber es sind zunächst auch nur Vorschläge, die ich anbiete. Sie ersetzen nicht den Diskurs, sondern sollen dazu anregen, Bewegungsprofile zu bestimmen.
So wie es eine grundlegende Definition von Veganismus, sowie unbedingt gültige ALF-Richtlinien gibt30, müssten auch die Profile der Einzelbewegungen leicht verständlich und als Definitionen verfügbar sein. Wer angäbe, mit der Ermordung eines Jägers eine ALF-Aktion durchzuführen, widerspräche damit dem zentralen ALF-Grundsatz, keine Menschen zu schädigen. Das Problem bestünde dann nicht nur in der theoretischen, der begrifflichen Fehlverwendung. Sondern der ALF würde geschadet, weil ihr Profil nicht respektiert wird und sie in der Öffentlichkeit dann so wahrgenommen wird, als würde sie Morde an Jägern akzeptieren. Zusätzlich bestünde die Gefahr, dass andere Aktivisten aufgrund dieser Morde das Profil der ALF verkennen und ebenfalls im Namen der ALF zu morden beginnen. Die Folge wäre dann eine aufreibende interne Auseinandersetzung darum, was unter ALF falle, und was nicht mehr.31 Das Vorhandensein der ALF-Richtlinien und der vegan-Definition macht jedes Streiten über das Verwenden der Begriffe „ALF“ und „vegan“, sowie deren Bedeutungen überflüssig. Die Begriffe sind klar, und sie haben sich als Konsens durchgesetzt. Es ist nicht möglich, dass jemand mit einem containerten Bio-Käsebrötchen von sich behauptet, ein „veganes“ Brötchen zu essen und entsprechend „Veganer“ zu sein. Oder „Veganer“ zu sein, wenn er die Eier seiner befreiten Hühner isst oder das „Fleisch“, das sonst vernichtet würde. Dafür gibt es andere Begriffe. Die Begriffe werden aber nur in dem Maße respektiert, wie sie anerkannt sind und verteidigt werden.
Bisher werden die Bewegungsdiskurse auf der falschen Ebene geführt. Wir dürfen nicht mehr davon ausgehen, dass es „die eine“ Bewegung gibt. Innerhalb der die Streitigkeiten über „das“ Bewegungsprofil dann unabwendbar wären. Es schadet nicht, wenn die (Gesamt-)Bewegung eigenständige, unterschiedliche, auch entgegengesetzte Profile und Ziele aufweist, die von Bewegungen getragen werden, die sich voneinander unterscheiden. Dieser Zustand würde der sozialen Realität Rechnung tragen. Die Anerkennung und Würdigung dieser Realität (dass es mehrere Einzelbewegungen nebeneinander gibt) würde Konfliktpotentiale aushebeln. Kaum jemand wird sich darüber beschweren, wenn Tierschützer Tierschutz betreiben. Oder wenn Tierrechtler auf ihr Profil verweisen, sich Verlaufende aufklären und gegebenenfalls Inkonsistenzen (Nichtübereinstimmungen mit dem Profil) angreifen. Es geht mir nicht darum, jeden angreifbar zu machen, der seine Aktionen nicht strikt einer konkreten Bewegung zuordnet. Erreicht werden soll aber, dass die bisher sehr häufige Falschetikettierung eingestellt wird.32 Das ist eine Frage des Respekts und eine der Verantwortung gegenüber den Bewegungen. Wenn die Profile der Einzelbewegungen be- und geachtet würden, gäbe es viel weniger Gründe für Streitigkeiten und viel mehr Toleranz in der Bewegung. Man wird sich allein schon aus Interesse eher auch mal mit den Nachbarbewegungen und deren Profilen auseinandersetzen, die einem bisher noch fremd sind. Mit der Erarbeitung von konkreten Profilen wird es einen transparenteren und damit ehrlicheren Diskurs zwischen den Bewegungen geben können. Ob man einer Einzelbewegung angehört oder sich zugehörig fühlen möchte, liegt dann in der eigenen Entscheidung. Über den Diskurs hätte man die Möglichkeit, das Profil einer Bewegung zu beeinflussen.
Nicht wenige Menschen in der Bewegung wollen es nicht hinnehmen, wenn sich Kritiker mit einem enger gefassten Profil komplett aus der gemeinsamen Bewegung
zurückziehen. Das lässt sich leicht verhindern. Wir brauchen eine gemeinsame Bewegung, die allen (ihren) Raum gibt – und lässt. Diese gemeinsame Bewegung gibt es bereits. Es ist die Tierbewegung,
die bisher fälschlich den Namen „Tierrechtsbewegung“ trägt. Wir müssen nun dafür sorgen, dass sie einen gewissen Charakter annimmt, damit die ewigen Streitigkeiten endlich ein Ende finden und
endlich gegenseitige Toleranz herrschen kann. Dieser Charakter wäre jener einer unabhängigen und toleranten Dachbewegung für Einzelbewegungen mit jeweils eigenen, zu schützenden
Profilen.
Emil Franzinelli
Fußnoten:
1: Weiter unten mache ich Vorschläge für die Unterscheidung der einzelnen Bewegungen. Sie sind hoffentlich argumentativ stark und nachvollziehbar. Ich erhebe aber nicht den Anspruch, einen Diskurs ersetzen zu können. Meine Analysen/ vorschläge sollen den Diskurs vielmehr anregen.
2: Siehe Simon Sadowski: „Verschwommene Bewegung. Von der Notwendigkeit der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung, sich von Vegetarier_innen und (veganen) Tierschützer_innen abzugrenzen“, www.linksunten.indymedia.org/node/36876. Eine zentrale Frage lautet: „Wenn schon zu viele Menschen und Gruppen innerhalb der Bewegung nicht dazu bereit sind, Menschen und Gruppen entgegenzutreten, die ihrem Anliegen entgegenarbeiten, wie soll die Öffentlichkeit dann in der Lage sein, das verknotete Gemenge aus Tierrechten, Tierschutz, Veganismus und Vegetarismus zu entflechten?“
3: Ich teile nur bedingt die Meinung, dass der organisierte Tierschutz mit seinen Erfolgen den Tierrechtszielen schade. Wenn Menschen für das (übermäßige) Leiden der Tiere sensibilisiert werden, dann schadet es nicht dem parallelen Vorhaben anderer, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass nicht-menschliche Tiere Grundrechte haben oder nicht mehr als minderwertig angesehen werden sollen. Es schadet nicht, unser Verhältnis zu nicht-menschlichen Tieren von unterschiedlichen Seiten aus anzugreifen. Nicht hinnehmbar ist jedoch, wenn der moderne Tierschutz in der Öffentlichkeit als das dominierende Sprachrohr einer gemeinsamen Bewegung auftritt und das radikale Ziel, sowie die langfristige Strategie der abolitionistischen Bewegung nicht mehr angemessen zum Vorschein kommen. Als kritischer Punkt bleibt, ob Reformerfolge die Tiernutzung nicht gerade etablieren und bei den Menschen sogar einen bewussten Konsum mit ausgesprochen gutem Gewissen bewirken. Damit würde der Reformismus dem Abolitionismus geradezu entgegenarbeiten. Moderne Tierschützer können sich ihrerseits als Tierrechtler ansehen, wenn sie meinen, dass wir als sich entwickelndes Ergebnis am Ende der jahrzehntelangen Tierschutzarbeit mit kurzgesteckten Reformzielen irgendwann dann eine vegane Gesellschaft ohne Tiernutzung vorliegen hätten. Diese Theorie und die Auseinandersetzung mit ihr erfordert einen eigenen Artikel. Ein entschiedener Vertreter ist Martin Balluch, ein entschiedener Kritiker Gary Francione. Wir können letztendlich nicht wissen, dass die Theorie falsch ist (meiner Ansicht nach ist sie übermäßig voraussetzungsreich und brüchig). Faktisch zählt bei der Zuordnung zu einer Bewegung jedoch, dass Forderungen von „humaneren“ Tiernutzungsbedingungen keine Tierrechtsforderungen sind und den Tierrechtszielen nicht entsprechen.
4: Siehe Mieke Roscher (2012): „Tierschutz- und Tierrechtsbewegung – ein historischer Abriss“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr.08 / 20.02.2012. Thema: Mensch und Tier. www.bundestag.de/dasparlament/2012/08-09/Beilage/006.html und Melanie Bujok (2002): „Tierschutz, New Welfarism, Tierrechte, Tierbefreiung – Ideenpluralismus in den Bewegungen für Tiere. Eine kritische Bewertung“, www.vebu.de/alt/nv/nv_2003_4__tierrechte__Ideenpluralismus. Roscher meint: „Tierschutz- und Tierrechtsbewegung werden fälschlicherweise oft gleichgesetzt, dabei unterscheiden sie sich in einigen Punkten so grundsätzlich, dass man es eigentlich mit zwei voneinander getrennten sozialen Bewegungen zu tun hat.“ Und: „Die bestehende Bewegung wurde [...] nicht nur revitalisiert; einher ging dies mit einer Welle von Neugründungen von Tierrechtsgruppen [...] sowie der deutlichen Differenzierung von Tierschutz und Tierrecht als Ziele politischer Forderungen.“ Bujok unterscheidet mehrere „Bewegungen für Tiere“ voneinander: die Tierrechtsbewegung, die Tierbefreiungsbewegung, den klassischen Tierschutz und den New Welfarism.
5: Bujok (2002): „Es besteht ein Ideenpluralismus. Eine Abgrenzung zum klassischen Tierschutz und New Welfarism (Francione) [wird] von der Tierrechtsbewegung und Tierbefreiungsbewegung nur zaghaft vorgenommen. Damit verwischt sie jedoch ihre eigene Identität und schwächt das Fundament, auf dem sie steht.“ Es gäbe „Gründe, die ein unkritisches Nebenher von Ansätzen und Ideen in der Tierrechtsbewegung und Tierbefreiungsbewegung zu beenden suchen.“ „Den Konzeptionen der Tierrechte und Tierbefreiung liegen philosophische Begründungen zugrunde, die nicht beliebig angenommen oder verworfen werden können, sondern es lässt sich in diesem Sinne durchaus von ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Argumenten, [abhängig davon, ob sie] einer kritischen Befragung [...] standhalten, unterscheiden.“
6: Zum Konflikt zwischen den Ansichten beachte den Artikel „Zur Frage der Toleranz. Herrschaftskritik ist in der Tierrechtsbewegung weder verzicht-, noch teilbar“ (TIERBEFREIUNG, Heft 70).
7: Siehe zum Beispiel den Text „Denunziation und Aufsplitterung in der Tierrechtsbewegung“, www.vegan.at/warumvegan/tierrechte/denunziation_und_aufsplitterung: „Erstens dürfen wir keine Aufsplitterung der Kräfte, keine Trennung in Tierschutz versus Tierrechte, große Vereine versus kleine Aktionsgruppen, bürgerliche versus linke AktivistInnen usw. zulassen. [...] wir brauchen Toleranz füreinander. Liberale, demokratische Toleranz, und eine bunte Vielschichtigkeit, viele verschiedene Meinungen und viele verschiedene Gruppierungen mit einem gemeinsamen Ziel, dem Ende der Tierausbeutung.“ Diese Forderung nach Toleranz ignoriert jedoch – zudem im Eigeninteresse (das heißt: als Tierschutz-Orga, als großer Verein, als dominierender populärer Ansatz) – die empfindliche Schädigung des Gegenansatzes.
8: Für die Tierrechts- und die Tierbefreiungsbewegung gilt: Sie würden inhaltlich immer noch gemeinsam einen Kontrast zu jenem organisierten Tierschutz bilden, der die Abschaffung der Tierausbeutung nicht hinreichend thematisiert. Nun aber von zwei unterschiedlichen Ansätzen her. Wenn es um die zentrale Gemeinsamkeit des Abolitionismus geht, kann / sollte von der abolitionistischen Bewegung geredet werden.
9: In einzelnen Fällen wird sicherlich die Frage im Raum stehen, ob noch die Bereitschaft und das Vertrauen da sind, mit Menschen und Organisationen zusammenzuarbeiten, die auch mit Nazis und dem UL kooperieren. Einfacher wird es sein, wenn jene, die bewegungsübergreifend etwas erreichen wollen, sich klar für eine emanzipatorische (Tier-)Bewegung entscheiden, die eben nicht hauptsächlich für die (nicht-menschlichen) Tiere eingestimmt ist, sondern auch andere Aspekte der Diskriminierung und Unterdrückung berücksichtigt.
10: Auf dieser Ebene unterscheiden sich die nationalen Bewegungen etwas voneinander. Zur Entwicklung geeigneter Ziele wäre es hilfreich, wenn es in anderen Ländern ebenfalls klarere Profilbildungen und Auseinandersetzungen um die Definitionen gäbe, die sich analytisch ausgehend auf die Begriffe stützen.
11: Selbstverständlich soll mein Beitrag nur eine Anregung, ein Einstieg in den Diskurs darstellen, er kann ihn nicht ersetzen.
12: Siehe David DeGrazia (2002): Animal Rights: A Very Short Introduction.
13: Siehe zum Beispiel „Hauptsache für die Tiere? Wie unkritisch und unpolitisch dürfen die Tierrechtsbewegung und ihre Repräsentierenden sein?“ (TIERBEFREIUNG, Heft 67).
14: Bei direkten Aktionen geht es primär nicht darum, die Gesellschaft oder den Gesetzgeber zu erreichen und sich für einen Wandel in Bewusstsein oder Gesetzgebung einzusetzen, sondern es wird auf direktem Wege ein (vermeintliches) Unrecht angegangen. Ein zentraler Grundsatz der ALF ist, dass bei direkten Aktionen Menschen und nicht-menschliche Tiere nicht verletzt werden dürfen.
15: Beachte die kritische Auseinandersetzung mit der Antispe im Kommentarteil zum Aufruf zu einem herrschaftskritischen Block in Aachen 2011, www.linksunten.indymedia.org/de/node/46662.
16: So beschweren sich mittlerweile Gruppen, dass zu den Aktionen kaum noch Aktive kämen, zu Brunchs und anderen Fressgelagen aber jede Menge, auch ehemals Aktivere. Das ist bedauerlich, doch ein Urteil darüber steht uns nicht zu. Klar ist, dass niemandem vorgeschrieben werden kann, aktiver zu sein. Und auch Burnout, mangelnde Erholung und Regeneration sind Thema in der Bewegung. Wenn man sich zusätzlich zum Alltag auch noch tierethischen Aktivismus aufhalst, kann man mit der Zeit ganz schön an die Grenzen der Belastbarkeit kommen. Da ist es gut, dass der Veganismus auch ausgesprochen einladende, schöne Seiten hat.
17: Eine Auflistung der konkreten Gründe findet sich im Kapitel „Nahrungsmittelproduktion – Klima, Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft“ auf S.9f der Titelstory von TIERBEFREIUNG, Heft 60.
18: Siehe zum Beispiel Sebastian Zösch (2012): „Essen macht Muh“,
www.theeuropean.de/sebastian-zoesch/11691-fleischkonsum-und-nahrungsethik.
19: Zugunsten der praktischen Gegenüberstellung führe ich sie nicht getrennt auf, was eigentlich angemessen wäre. Ich stütze mich hier teilweise auf die Darstellungen von Martin Balluch und Klaus Petrus auf dem Tierrechtskongress 2011 in Wien.
20: Beachte zum Beispiel das Statement von Renate Künast in ihrem Gastbeitrag „Die zynische Idylle“ in der Frankfurter Rundschau vom 21.07.2012, www.fr-online.de/1472602,16669916.html: „Die Grünen verlangen [...], dass die Haltungsbedingungen in der Landwirtschaft sich an den Bedürfnissen der Tiere orientieren müssen. Wir brauchen kritische Prüfverfahren für Stallsysteme. Dauerhafte Anbindehaltung und die sogenannte Engaufstellung sind nicht länger verantwortbar. Qualzucht muss klar benannt und strikt verboten werden. Die Alternative ist eine artgerechte Tierhaltung“. Ein typisches Beispiel stellt auch der Fleischer-Fachverband Neuland e.V. dar, „ein landwirtschaftlicher Fachverband zur Förderung einer tiergerechten, umweltschonenden, qualitätsorientierten, bäuerlichen Nutztierhaltung.“ Die Träger sind die drei Verbände Deutscher Tierschutzbund e.V. (DTSchB), Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) und Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft e.V. (AbL). Außerordentliche Mitglieder sind Landwirte und Fleischer. Der Ehrenpräsident des DTSchB, Wolfgang Apel, ist Vorstand dieses Fleischer-Fachverbands. Siehe www.neuland-fleisch.de/verein/der-neuland-verein.html. Ein weiteres Beispiel für den klassischen Tierschutz ist, wenn die „Tierrechtsorganisation“ PeTA ihren PeTA Progress Award an Temple Grandin dafür verleiht, dass sie die Schlachthöfe in den USA tierfreundlicher konzipiert.
21: Klaus Petrus kam bezüglich der Eierproduktion in der Schweiz jedoch zu folgendem Fazit: Der Tierschutz ist den Schweizern sehr wichtig. 1992 wurde die Käfighaltung von Hühnern verboten. Heute gibt es mehr „Legehennen“ in der Schweiz, den gleichen Konsum an Eiern, kein Bewusstsein der Konsumenten für einen gebotenen Verzicht. Der tierausbeutenden Industrie gehe es heute besser, sie wurde nicht ökonomisch geschwächt.
22: Denn nur bei Vorhandensein dieser Fähigkeit (dann aber unmittelbar) werden gewisse Zustände der Welt als schlecht oder gut erlebt und bewertet, nur hier ist Schaden möglich. Vor einer Schädigung wollen wir uns schützen. Unser Interesse, nicht geschädigt zu werden, sichern wir uns über institutionalisierte Rechte (Abwehrrechte). Damit ein Rechtesystem stabil wird und nicht durch zufällig Machthabende zum Nachteil einer diskriminierbaren Gruppe ausgehebelt werden kann, muss das Gleichheitsprinzip gelten. Wenn wir sagen: „Tiere haben Rechte“, dann meinen wir eigentlich: „Wir sollten nicht-menschlichen, empfindungsfähigen Tieren deswegen Grundrechte zusprechen, weil wir es auch bei empfindungsfähigen Menschen tun.“ Die Zuschreibung einer „Würde“ oder eines „inhärenten Wertes“ wird nicht benötigt, weil es diese ebenso wenig in der Welt gibt wie Naturrechte und man sich vom philosophischen Standpunkt her damit keinen Gefallen tut. Eine hervorragende Begründung und Diskussion von Tierrechten, die ohne metaphysische Annahmen auskommt, bietet Klaus Peter Rippe (2008): Ethik im außerhumanen Bereich.
23: So zum Beispiel Tom Regan (1983): The Case for Animal Rights und Paola Cavalieri (2002): Die Frage nach den Tieren. Für eine erweiterte Theorie der Menschenrechte.
24: Für seine Theorie des Präferenzutilitarismus ist sein Hauptwerk Praktische Ethik (mittlerweile in der dritten Auflage erschienen) ebenfalls relevant. Singers philosophischen Ansatz diskutiere ich in „Antispeziesistisches Plädoyer für die Befreiung des Menschen – Eine Auseinandersetzung mit linkem Anti-Antispeziesismus“ (TIERBEFREIUNG, Heft 70).
25: Der Begründer des Utilitarismus, Jeremy Bentham, trat als Sozialreformer gegen die (rechtlichen) Privilegien der gesellschaftlichen Oberschicht und für mehr Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit ein.
26: Singer selbst bezeichnet sich als der „Tierrechtsbewegung“ zugehörig. Auf Nachfrage hin gibt er jedoch zu, nicht „Tierrechtler“ im eigentlichen Sinne zu sein, weil er als Utilitarist die Forderung von (Grund-)Rechten eigentlich ablehnt.
27: Siehe den Text zu ihrer Umbenennung (2010): „Tierbefreiung statt Tierrechte“,
www.berta-online.org/?page_id=60.
28: Die Darstellung und Zurückweisung der „Tierrechts“konzepte durch die BerTA finde ich teils einseitig und illegitim verschärft.
29: Beachte den Sammelband von Susann Witt-Stahl (Hrsg., 2007): Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die
Befreiung der Tiere. Sowie den Flyer anderer Hamburger Aktivisten zu den Blockupy-Protesten in Frankfurt (2012): „Menschen, Natur und Tiere in der Krise. Über die Notwendigkeit einer
antikapitalistischen Kritik der Tierausbeutung“,
www.tierbefreiung-hamburg.org/archives/1255.
30: In ihrem Memorandum von 1979 definiert die britische Vegan Society den Veganismus als eine „Philosophie und Lebensart, die versucht – so weit wie möglich und praktisch durchführbar – alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Tieren für Essen, Kleidung oder andere Zwecke zu vermeiden und fördert darüber hinaus, zum Wohle von Menschen, Tieren und der Umwelt, die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen. Bezüglich der Ernährung bezeichnet es die Praxis des Verzichts auf alle Produkte, die ganz oder teilweise aus Tieren gewonnen werden.“ Siehe auf Englisch unter Punkt 3: www.vegansociety.com/pdf/ArticlesofAssociation.pdf. Entsprechend, aber kürzer, eine aktuelle Definition der Vegan Society: „Veganism is a way of living that seeks to exclude, as far as possible and practicable, all forms of exploitation of, and cruelty to, animals for food, clothing and any other purpose.“ Siehe www.vegansociety.com/about/who-we-are.aspx. Für die ALF-Richtlinien siehe hier: „The ALF Credo and Guidelines“: www.animalliberationfront.com/ALFront/alf_credo.htm. Für die Tierbefreiungsbewegung gibt es bereits einen Ansatz aus der Schweiz, der meiner Überzeugung nach aber noch des erweiterten Diskurses bedarf. Siehe www.al-hallmarks.net.
31: Wer militanter agieren möchte, als die ALF-Richtlinien es erlauben, würde mit seiner Aktion nicht mehr der Tierrechts- oder Tierbefreiungsbewegung angehören, weil diese die Gewalt gegen Individuen ablehnt.
32: Beispiel: Tierschützer organisieren Tierbefreiungsworkshops. Siehe www.animal-liberation.at.