Sina Walden, selbst Tierrechts-Aktivistin, berichtet von Niederlagen und Siegen. Und warum Kinder keine Gummibärchen mehr essen sollten.
Im Tierschutz hatte mensch sich eingerichtet. Seit über hundert Jahren gibt es Institutionen und Gesetze, die im Lauf der Zeit vermehrt und verbessert wurden. Und
die öffentliche Einstellung ist nahezu einhellig: Man ist dafür. In unserem Kulturkreis gehört Tierschutz zum guten Ton, zum zivilisatorischen Selbstverständnis.
Doch vor rund 20 Jahren begann sich eine diffuse Unzufriedenheit auszubreiten: Es konnte etwas nicht stimmen mit einem Tierschutzverständnis, unter dessen Ägide sich
ungebremst ganze Systeme massenhafter Grausamkeit entwickeln konnten. Was da so langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang, Fotos und Berichte der „Tierversuche“, der „Nutztierhaltung“, der
„Pelztierzucht“, sprengte den Selbstbetrug einer sich zivilisiert glaubenden Gesellschaft.
Doch den meisten genügt im Fall der Untaten, die hier in Rede stehen, die „Erklärung“, dass die Opfer ja keine Menschen seien und dass ihr – bedauerliches – Unheil
doch dem höherwertigen Wesen Mensch zugute komme.
Die uralte Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren (oder, wie es im englischen Sprachraum heißt: zwischen Menschen und anderen Tieren) rastete wieder
ein.
Wenn Tiere erst einmal als Gebrauchsartikel abgestempelt sind, dann brauchen mehr KonsumentInnen eben mehr Tiere. Und wenn sie ohnehin zur Nahrung und Kleidung
dienen, dann darf eine fortgeschrittene Medizin und Forschung sie wohl auch für das hohe Gut der menschlichen Gesundheit nutzen. Doch Gebrauchsartikel, die leiden können, sind ein merkwürdiger
Widerspruch. Noch merkwürdiger ist, dass ihre Leiden den menschlichen so auffallend ähnlich sehen. So „ganz anders“ sind die Tiere offensichtlich doch nicht. Die Frage kam auf, ob mensch diese
Ähnlichkeit, diese Gleichheit nicht künstlich übersieht, um ohne Gewissensnöte konsumieren zu können.
Das Argument, dass es „immer schon so war“, stach nicht mehr recht. Schon so manche tausendjährige Überzeugung war unter den moralischen Kategorien Gleichheit und
Gerechtigkeit zerbrochen. Gleiches gleich zu bewerten ist die Essenz dieser Prinzipien.
Warum sollten sie nur für die menschliche Spezies gelten? Mussten auf dieser Grundlage nicht auch nichtmenschlichen, aber leidensfähigen Lebewesen Rechte zur
Sicherung ihrer elementaren Bedürfnisse zugestanden werden, etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Schon die klassischen TierschützerInnen wollten Tiere vor Leiden durch den Menschen
schützen, aber doch nur unterhalb der menschlichen Interessen. An so etwas wie Gleichberechtigung für Tiere zu denken erschien ihm ebenso absurd wie dem Rest der Welt. Sein Weltbild blieb
anthropozentrisch.
Anfang der 80er Jahre traten plötzlich Menschen auf den Plan, die Gerechtigkeit für Tiere forderten. Sie wollten keine „größeren Käfige“, keine „ökologische Jagd“,
keine „sanften Dressuren“ im Zirkus, keine „auf das Notwendige beschränkten“ Tierversuche. Sie wollten keine Bescheidenheit. So rückten die neuen und neuartigen Tierschutzgesinnten die Interessen
der Tiere in den Mittelpunkt und maßen sie nicht mehr an denen des Menschen.
Die Neuen fingen an, sich lose zu organisieren, viele unter dem Namen „Tierversuchsgegner“. Doch sie realisierten mehr und mehr, dass der Schutzgedanke allein nicht
reicht. Mitleidige Menschen und gestresste Tierheimangestellte würden sich bis ans Ende der Tage dabei aufreiben, einzelnen armen Tieren aus der Not zu helfen, während weitaus stärkere Kräfte
Millionen Tiere ausbeuteten, folterten und vernichteten.
Die grundsätzliche Anerkennung der Rechte der Tiere, nicht die punktuelle Milderung ihrer Abhängigkeit wurde zum Ziel dieser neuen TierrechtlerInnen. Idealistisch
und unrealistisch? Von Gandhi bis zum Vietnamkrieg und den Bürgerrechtsbewegungen hatte es sich immer um die Herausforderung einer scheinbar unüberwindlichen Übermacht gehandelt. Ließ sich daraus
nicht auch etwas für die entstehende Tierrechtsbewegung lernen?
Einige Aktive setzten auf die Tat und kündigten mit Tierbefreiungen aus Versuchslabors, der Zerstörung von Foltereinrichtungen oder der Behinderung tierfeindlicher
Tätigkeiten die Legalität des Unrechts auf. Auch Sklavenhalter waren zu ihrer Zeit durch das Gesetz geschützt. Die Tierbefreiungen lenkten den Blick medienwirksam auf das legalisierte Unrecht.
Und in der Bevölkerung brachten sie Sympathien. Kalt ließ die TierbefreierInnen der von Teilen des organisierten Tierschutzes erhobene Vorwurf der „Gewalt“, zu lächerlich angesichts der
überdimensionalen Gewalt, die den Tieren angetan wurde.
Aber das Band war ohnehin schon zerschnitten. Tierschutz und Tierschutz war nicht mehr dasselbe. Im Übrigen hat – bis zum heutigen Tag – nie jemand aus der
Tierrechtsszene physische Gewalt gegen Lebewesen, Mensch oder Tier, angewandt. Das ist Wunschdenken derer, denen die ganze Richtung nicht passt.
Bei den legalen wie den illegalen Aktionen ging es zunächst darum, Auf-sehen zu erregen, den Konsens von Verdrängung und Rationalisierung aufzubrechen. Ein
geschlossenes Konzept oder gar eine „Ideologie“ lag all diesen sozusagen wild wachsenden Aktivitäten nicht zugrunde. Doch war die Zeit schon reif?
Sie war es nicht. Jedenfalls nicht für eine in absehbarer Zeit zu erhoffende Perestroika. Die Tierrechtsbewegung hatte die Widerstände gewaltig unterschätzt, die
sich gegen ein Umdenken stemmen. Die Macht über die Tiere bildet einen Eckpfeiler, wenn nicht das Fundament der menschlichen Kulturen. Ein so gigantischer Überbau wurde über dem Töten und Essen
errichtet, dass es in der Tat utopisch erscheint, ihn mit so schwachen Waffen wie Recht und Moral zu Fall zu bringen.
International ist die Entwicklung in den angelsächsischen Ländern am weitesten, wo sich schon früh auch die akademische Philosophie der Tierfrage angenommen hat. Die
Werke der Professoren Tom Regan und Peter Singer (beide USA) sind dort Lehrstoff an den Universitäten und Diskussionsstoff in der Öffentlichkeit, „Animal Rights“ ist ein stehender Begriff
geworden. Und wer hätte geglaubt, dass die italienischen „animalisti“ eines Tages mit über 20.000 Teilnehmern für die „diritti degli animali“ durch die Straßen von Rom ziehen würden, wie es
mehrmals in den letzten Jahren geschehen ist?
Die deutsche Tierrechtsbewegung ist inzwischen in ein ruhigeres Fahrwasser gekommen. Von der Straße ins Internet. Aber das heißt nicht, dass sie ihre Ideen und Ziele
zurückgestutzt hätte oder an der Realität gescheitert wäre. Die publikumswirksamen Aktivitäten, die großen Demos und spannenden Sponti-Aktionen haben sich zwar weitgehend erschöpft, dafür ist der
über die Medien verbreitete Anspruch an das eigene Verhalten des Einzelmenschen gestiegen
nach dem Motto: „Jede/r muss bei sich selbst anfangen!“
Der provokante Aktivismus der TierrechtlerInnen hat einen merklichen Bewusstseinsschub bewirkt. Eine neue Idee war in die Welt gekommen, und Ideen haben ihre eigene
Wirkungsgeschichte. Beim mehr als zwölfjährigen und endlich im Mai 2002 zum Erfolg gebrachten Kampf um die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz (was bei weitem noch nicht die Installierung
von Tierrechten bedeutet), hat sich gezeigt, dass die höhere Bewertung des Tierlebens schon in die Köpfe gedrungen ist.
Das Fundament steht. Die Tierrechtsidee ist auch deshalb nicht mehr auszuhebeln, da sie sich mit zwingender Logik aus dem Gleichheitsprinzip ergibt.
Im weiteren Sinne lässt sich heute unter Tierrechtsbewegung alles verstehen, was sich auf den Grundgedanken stützt, dass Tiere ein Recht auf ihr eigenes, vom
Menschen nicht manipuliertes Leben haben und auf ihren eigenen Tod. Jede/r Einzelne kann dazu beitragen, so klein der Beitrag sein mag. Auch Kinder, wenn sie Gummibärchen verweigern, weil die aus
Gelatine gemacht sind.
Sina Walden ist Autorin von „Endzeit für Tiere“ (Rowohlt, vergriffen), Juristin, Journalistin und Übersetzerin. Sie lebt in München und Italien. –